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Ach Gisbert.

Nach einem Tatort haben mir noch nie die Worte gefehlt. Oft kamen sie nur so gesprudelt und oft waren sie auch nicht alle besonders nett. Der tiefe Schlaf hingegen – der jünste Tatort des Münchener Ermittlerduos – hat mir vollkommen die Sprache verschlagen. Einen so von Grund auf guten Tatort habe ich lange nicht mehr gesehen. Schon allein rein inhaltlich versteht er zu berühren. Aber auch darüber hinaus macht dieser Tatort eine ganze Liste von Dingen richtig, die im deutschen Fernsehen in letzter Zeit oft genug vernachlässigt wurden.

Da wäre zunächst Gisbert. Gisbert Engelhardt ist der junge Kollege, der den beiden alteingesessenen Kommissaren Batic und Leitmayr in dem Fall eines ermordeten Mädchens zur Seite gestellt wird und sich mit seinem jugendlichen Ehrgeiz nicht besonders beliebt macht. Gisbert könnte der klassische Streber sein – spießig, übereifrig und verklemmt – und das ist er auch oft genug, um für Situationskomik zu sorgen, im Kern ist er jedoch vor allem eins: Ein liebenswerter Charakter. Und als solcher wird er von Regisseur und Drehbuchautor Alexander Adolph vollkommen ernstgenommen – etwas, das meiner Meinung nach im Fernsehkrimi viel zu selten geschieht. Da haben wir beispielsweise die Herren Thiel und Boerne, die besonders in ihren späteren Fällen zu Karikaturen ihrer selbst verkümmern oder den dicken Herrn Krause auf seinem Moped, der neben Olga Lenski praktisch als wandelnde comic relief im Polizeiruf ermittelt. Fabian Hinrichs Gisbert hingegen fungiert nicht als running gag, wenn seine Gegenwart auch Anstoß zu der ein oder anderen komischen Szene gibt. Gisbert ist mehr. Gisbert können wir nicht einfach so hinnehmen, wir wollen ihn kennenlernen und dass uns das zunächst verwehrt bleibt, macht einen großen Teil der Spannung dieses Tatorts aus.

Spannend ist dieser Tatort aber sowieso. Anstatt die gesamte Struktur des Tatorts aufzusprengen und dadurch die sich ständig wiederholende alte Leier des Sonntagabend-Krimis zu umgehen, wie es beispielsweise in den hochgelobten Tatorten Weil sie böse sind und Nie wieder frei sein der Fall war, wird hier rein inhaltlich ganz klassisch ein Fall aufgerollt – falsche Fährten, ein Kreis Verdächtiger und zuletzt führt der entscheidende Hinweis zum Täter. Ich weiß auch nicht was zu dem hartnäckige Gerücht geführt hat, aus dem Whodunnit-Prinzip ließe sich keine Spannung mehr generieren, denn hier funktioniert das ganz einwandfrei. Dass dabei ganz offensichtlich Handlungselemente aus Dürrenmatts Das Versprechen entliehen wurden, möchte man da schon fast wohlwollend als Hommage anerkennen.

Der tiefe Schlaf beherrscht virtuos die in letzter Zeit mehr und mehr verlorengegangene Tugend des „Show, don’t tell“ – eine starke Bildsprache, vielsagende Dialoge und hervorragende Darsteller zeichnen ein dichtes Bild der sich im Laufe des Tatorts drastisch wandelnden Situation. Uns wird erlaubt, mit den Kommissaren zu leiden – und zwar nicht, weil wir zuhören müssen, wie sie über ihre Gefühle reden, sondern weil wir die Situationen so erfahren, wie sie sie erfahren. Wir fühlen, was sie fühlen. Dass wir dabei keine widerlich zugerichteten Leichen zu Gesicht bekommen oder Ausflüge ins Privatleben der Ermittler unternehmen müssen, spricht nur für die erzählerische Qualität dieses Tatorts.

Die ARD beweist mit Der tiefe Schlaf seit langem mal wieder Mut: Mut zu Charakteren und Emotionen, Mut zur ungewöhnlichen Kamera und Beleuchtung aber auch Mut zum klassischen Krimi, der seinen Reiz offensichtlich doch noch nicht so ganz verloren hat. Es muss nicht immer der krasse Thriller sein, nicht die schrägen Vögel, nicht die kranke Gesellschaft, nicht das Milieu… In diesem Fall reicht Gisbert. In Zukunft hätte ich gerne mehr von seiner Sorte.

2 Kommentare zu “Ach Gisbert.

  1. Oh du. Du weißt, ich bin sehr häufig deiner Meinung, ohja, sogar fast ausschließlich. Aber hier gehen wir wohl ausnahmsweise wieder ein Stück weit auseinander. Aber der Reihe nach. (UND ACHTUNG; SPOILERS!)

    Ich bin kein regelmäßiger Tatort-Gucker, aber einige habe ich dann doch mittlerweile gesehen, zumindest genug, um althergebrachte Stilmittel zu erkennen – und stellenweise zu verurteilen.
    Was sich über Der tiefe Schlaf meiner Meinung nach sagen lässt, ist: Fast. Fast hätten sie es geschafft. Beinahe, wenn sie sich nur einmal etwas trauen würden!
    Die Anzeichen sind da! Die wirklich gekonnte Überschneidung von Vergangenheit (dem Vorspiel zum Mord) und der Gegenwart (die Ermittlung): Klasse! Eine Handvoll „gewagter“ Kameraeinstellungen haben sie auch (eine HANDVOLL, ich habe mitgezählt, fünf Einstellungen, die ich neu, großartig und einfallsreich fand), aber ja, man sieht, wo es hinführen könnte, also auch, klasse!

    ABER: Die Kamera bleibt die meiste Zeit so statisch. Die Cinematographie wird beherrscht von Stadarteinstellungen und Standartwinkeln. Dann die Lautlosigkeit, keine Musik (ist das typisch Tatort? Dafür fehlt mir das Wissen, fürchte ich), keine Geräuschkulisse. Keine Details, wir kriegen immer nur das große Bild gezeigt, aber was ist mit den kleinen Dingen, wo bleiben die Nahaufnahmen? Das ist mir alles zu schlicht gewesen. Ich will kein Effektefeuerwerk, ich will keine hektischen Actionshots, aber etwas mehr Einfallsreichtum bei den Einstellungen wäre gerade bei diesem Tatort, bei dem die Handlung so wunderbar Chancen bietet, doch nicht zu viel verlangt.

    Die Story: Ja, Dürrenmatt, aber dennoch eine wirklich großartige Geschichte. Auch der Versuch, sie halbwegs anachronistisch zu erzählen, die Überschneidungen zwischenbereits Geschehenem und der Gegenwart: Unbedingt! Aber das Ende? Hätte es an der Imbissbude geendet, nach dem Räuspern, Leitmayr dreht sich um und sieht den Herrn am Tisch, und ihm wird klar, das ist er: Genial. Großartig. Ohne Frage.
    Aber nein, wir brauchen ja noch eine Verfolgungsjagd! Mist! Also los, ab dafür. (Ein herrliches Beispiel dafür, dass sich die Leute nichts mehr trauen, und vermutlich tun sie gut dran, weil das deutsche Fernsehpublikum es nicht anders kennt und haben will. Selbst schuld!) Chance also vergeben.

    Dann Gisbert. Oh, ja, clevere Idee, wirklich, er ist ein interessanter Charakter und hätte so viel mehr werden können. Allerdings fand ich ihn schauspielerisch hart an der Grenze, keine Ahnung, was genau mich gestört hat, eventuell der viel zu leblose Blick, das ausdrucksarme Gesicht, wer weiß. Da war kein Leben in der Figur, und daher hat es mich herzlich wenig berührt, als er dann später einen „Abgang machte“. Und überhaupt: Das kam so plötzlich, da war er einfach weg, man hat ihn nicht mal gesehen (!), es gab keine wirklich Szene, in der den beiden Komissaren anzusehen war, dass sie kapieren, was da grade passiert ist. Sie müssen es einem ja nicht mal sagen, ich will auch keine ausgesprochenen Gefühle. Aber Realismus, der fehlte mir. Du sagst, da wäre show-don’t-tell? Das habe ich nicht gesehen. Da haben sie mir zu wenig gezeigt, um wirklich Emotionen rüber zu bringen. Da hätte man mit dem Tempo runtergehen müssen, wo bleibt die Musik im Hintergrund, wo bleibt die Tragik dieser Sache (denn tragisch ist es, eigentlich)? Aber nein, wir sehen Gisbert nicht einmal, wie er da liegt, wir hören nichts mehr von ihm, wir bekommen keinerlei Hinweis darauf, wie und was und weshalb das passiert ist. Schade, wieder sehr schade.

    Dass die beiden Jungs sich dann später auch noch irgendwie zerstreiten (ehrlich gesagt, ich hab nicht verstanden, wieso der eine den anderen angekeift hat), dass es eine typische Verfolgungsjagd gibt (wirklich, Tatort in 100 Sekunden sagt alles!), dass einige sehr eigenartige, steife Schnitte drinnen waren und viele, viele kleinen, aber gemeinen Klischees, das alles macht das Ganze irgendwie bitter. Bitter deswegen, weil es anfangs wirklich gut aussah. Einige tolle Einstellungen, ja, und schauspielerisch fand ich den Lehrer ja ziemlich großartig, aber insgesamt bleibt es bei einem FAST.

    Beinahe, deutsches Fernsehen, beinahe hätte ich zugegeben, dass du es noch drauf hast. 20 Minuten lang habe ich es geglaubt. Und dann hast du doch gekniffen und an zu vielen kleinen Baustellen deine üblichen Klischees eingebaut, weil die jeder kennt (und mag?).

    Also tut mir Leid, meine Liebe. Vielleicht sind wir beide schon so verzweifelt, dass wir nach den kürzesten, dünnsten Halmen greifen. Aber das ist mir noch zu weit entfernt von wirklich gutem Fernsehen. Der Wille, irgendwie tief vergraben, ist da, ganz bestimmt. Aber wenn sich da nicht endlich jemand traut, was anders zu machen, fürchte ich, wird dies hier das Beste bleiben, was wir kriegen. Durchschnitt. Immerhin.

  2. Whoa. Danke für den ausführlichen und sehr fundiert vorgetragenen Kommentar. In dem Fall müssen wir aber vielleicht wirklich unsere unterschiedliche Tatort-Historie verantwortlich machen: Ich nehme an, du hast vor allem die Tatorte gesehen, die ich mal unter dem Titel „Hervorragende Tatorte“ auf einer Liste zusammengefasst habe? Da wird die Messlatte natürlich hoch gelegt. Außerdem: Während du die letzten zwei Wochen mit Doctor Who verbracht hast, habe ich Das Traumschiff gesehen und glaube mir, im Vergleich war dieser Tatort brilliant. (In Dialogen durchexerzieren, was gerade innerlich in dem jeweiligen Charakter durchgeht – das habe ich schon viel zu oft gesehen. Hier nicht.) Ich finde gerade die Entscheidung, elementare Dinge NICHT zu zeigen, mutig, außerdem die Tatsache, dass der Tatort gegen Ende fast vollständig zum Stillstand kommt, die Dynamik zwischen den beiden Kommissaren, die sich ausnahmsweise mal nicht darüber ausspielt, dass der eine sensibel ist und der andere gerne mal zuschlägt, die kleinen Gesten (da waren für Tatort-Niveau eine ganze Menge dabei: besonders das Fenster und diese ziemlich entlarvende Großaufnahme von Leitmayrs Gesicht gegen Ende).
    Und Gisberts „Abgang“, wie du ihn nennst? Fand ich schockierend. Gerade weil nichts gezeigt wird, es dämmert einem langsam und langsam wird einem erst das Ausmaß dessen klar, das nenne ich „Show, don’t tell“. „Show, don’t tell“ steht bei mir aber sowieso viel mehr für „Gefühle erzeugen anstatt über Gefühle zu reden“ – und das hat hier hervorragend funktioniert.
    Du hast natürlich recht, es reicht nicht, im Vergleich mit dem Traumschiff brilliant zu sein, und ein paar avantgardistische Schnitte und Einstellungen einzubauen, aber wenn man mal davon ausgeht, dass ich schon allein das dem deutschen Fernsehen nicht mehr zugetraut hätte, war ich glaube ich zu recht positiv überrascht. Du hast auch recht, wenn du im Grunde behauptest, das war kein Sherlock, war es ja auch nicht. Ich mag diese minimalistische, ruhige und alles in allem sehr deutsche Art des Films, aber das ist wahrscheinlich auch Geschmackssache.
    Alles in allem: Ich verzeihe dir. Geschmäcker sind verschieden. Nur Gisbert: Auf den lasse ich nichts kommen. Denn den fand ich auch und vor allem schauspielerisch großartig.

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